Sleeping Wall 2005 Stadtmuseum Oldenburg
160 x 168,5 x 14,5 cm – 432 bricks, each 9,9 x 20 x 4,8 cm, clay, glaze, the bricks are made in press-mould using fine grained white sculpture clay .ekwc NL

Oberflächen des Raumes. Ein Exkurs über die Tiefe.
Prof. Dr. Ulli Seegers

Höhe x Breite x Tiefe = Raumvolumen. Mit den drei multiplizierten Ausdehungsmaßen eines Gegenstandes wird in der Elementargeometrie die Dreidimensionalität des Raumes abgesteckt, wobei der Raum selbst als ein ohne feste Grenzen ausgedehntes Gebiet gedacht wird. Fehlte die Tiefe, wäre reine Fläche. Eine zweidimensionale Fläche beschreibt das Gegenteil von Raum. Der Inhalt einer Fläche heißt Oberfläche. Fläche und Tiefe schließen sich im logischen Entweder – Oder mathematisch aus. Wie aber heißt der Inhalt von Tiefe? Hat der Raum eine Oberfläche?

Schwarz
Seit den 1990er Jahren ist Hella Berent verborgenen Tiefenschichten der Oberfläche auf der Spur. Dabei gilt ihr Interesse zunächst der (Un-)Farbe Schwarz. Schwarz als Inbegriff von Totalität und Nichts zugleich, als Urgrund aller Farben und Mutter alles Seienden. Aus losem schwarzen Pigment entstehen Leinwände, die in ihrem samtenen, tief durchtränkten Schwarz die unerforschliche Unendlichkeit des Alls erahnen lassen (vgl. XXXXIV NERO, Rom 1992). Ein Universum, in das es sich durch die tiefschwarze Pigmentoberfläche eintauchen läßt. Die Wirkung von Schwarz, das den Betrachter existentiell umfängt, ist dabei nicht an das Bild der Leinwand gebunden. Hella Berent erforscht andere Materialien, so auch die sinnliche Erscheinungsweise schwarzen Gummis, das sie für verschiedene Buchobjekte, als Bildträger und in Installationen einsetzt (vgl. Glut der Unterscheidung, Nürnberg 1992). Die Oberflächentextur der unbearbeiteten dünnen Gummibahnen ruft eine eigentümlich räumliche Wirkung hervor, die die Künstlerin in einigen Arbeiten durch filigrane, weiße Pastell-Zeichnungen noch verstärkt. Neben dem Gummi ist es auch der schwarze Granit, der durch seine natürliche Materialität das Interesse Hella Berents weckt. Geschliffen und poliert entbirgt der Stein gerade in seiner Schwere und Massivität eine fast luzide Transparenz, die das Schwarz zur Passage in andere Welten werden läßt (vgl. ATHANASY – The Fire consuming Otherness, Neu Delhi 1993).

Das undurchdringliche Schwarz zieht die Blicke an, scheint diese in seinem Inneren zu absorbieren und in einem unerfindlichen Gemisch von Fülle und Leere zu binden. Ob als loses Pigment, weich fließende Gummibahn oder als massiver Stein – dem Schwarz haftet eine Kompaktheit hat, die an primordial-ungestalte Materie erinnert. Die Nichtfarbe erscheint als reine Potenz, die nichts zeigt, aber schon alles in sich birgt. Ihre Tiefenwirkung geht nach innen, durch alle Schichten, dorthin, wo sich im verborgensten Winkel das von dichtem Stoff verhüllte Zentrum erahnen läßt. Schwarz als unendliche Materie und reines Sein.

Spiegelung
In der Installation Tree of Life (Neu Delhi 1995) gerät der Blick in die Tiefe unversehens zum Blick in die Höhe. Über zwölf rechteckig ausgehobene Erdlöcher hat Hella Berent Panzerglasscheiben platziert, die mit dem Erdreich bündig abschließen. Die Zweige angrenzender Bäume und der Himmel spiegeln sich in den Glasflächen im Boden. En detail erscheint damit nicht nur die Erde wie ein Stück Himmel, sondern in der Fläche blitzt auch ein Stück unendlicher Tiefe auf: Durchdringung des Gegensätzlichen bis zum Zusammenfall in seiner sinnlichen Erscheinungsweise. Die Spiegelung von Oben und Unten ist ebenfalls Gegenstand der Installation Have Sunk, die 2000 im neapolitanischen Castel S’Elmo entsteht. Die 160 auf dem Boden des Tuffsteinraums ausgelegten Spiegel lösen den gedrungenen Raum des mittelalterlichen Tonnengewölbes auf in einen Tanz der Lichtreflexe, der Decke und Boden ineinander spiegelt und die gemauerte Architektur perforiert bzw. ins Bodenlose verflüchtigt.

Reflexion und Widerspiegelung des einen im je anderen: in ihren photographischen Doppelbelichtungen überlagern sich zwei verschiedene Orte und Zeiten bis zur vollständigen Überblendung. Die Motive fließen ineinander und bilden etwas Neues, ein Drittes. Am Entstehen dieser Bildamalgame ist immer auch der Zufall beteiligt, wenn sich erst in der Dunkelkammer das Ergebnis der beiden überlagerten Motive zeigt. Hella Berent wählt für ihre Doppelbelichtungen, die bereits seit den 1980er Jahren entstehen, völlig unterschiedliche Gegenstände, Situationen und Kulturen. Architekturen, Landschaften und Interieurs wechseln wie die geographischen Schauplätze der Aufnahmen.

In den Doppelbelichtungen wird das Ephemere der Glas- und Spiegelinstallationen im Bild konserviert und manifest. Die Verkehrung der Perspektive als Gegenstand der temporären Lichtreflexionen findet in der zweifach belichteten Photographie eine dauerhafte Synchronisierung der Wahrnehmung. In der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gerinnen Räume, Zeiten und Kulturen zu einem neuen Sehen, das Entfernte zusammensieht. Die photographischen Überblendungen werden im Wechsel der aufgesuchten Orte und erlebten Zeiten zu Topographien des Imaginären, die undefinierte Erfahrungsräume öffnen. Spiegelung als Dynamisierung der Perspektiven und Reflexion des Seienden.

Blau  
Die Ablösung vom Gegenständlichen und Auflösung des Materiellen finden in der Manifestation des Flüchtigen ihre gegenläufige Entsprechung. Durch die Reflexwirkungen und  Überlagerungen ist das Bestehende in Bewegung geraten, so daß der Transformationsprozeß seine Vollendung in der gegenseitigen Durchdringung sucht. Das Blau des Himmels auf die Erde zu holen, ist dabei so kühn und gleichzeitig so plausibel wie das Streben, Denken und Fühlen in Einklang zu bringen. In der Zusammenführung des Auseinanderliegenden bündeln sich die einzelnen Energien zu einer einzigen Kraft, der das Unmögliche zuzutrauen ist.

Die Auseinandersetzung mit dem Werkstoff Ton öffnet Hella Berent seit 1998 neue Möglichkeiten, das Flüchtige zu bannen. Die blaue Glasur auf gebranntem Ton bildet dabei in doppelter Hinsicht einen Materialisierungsprozeß, der das Verschiedene unverbrüchlich zusammenbringt. Materialikonographisch wird das Blau als Farbe der Ferne ganz buchstäblich durch große Hitze in den feuchten, biegsamen Ton eingebrannt. Sichtbares Ergebnis dieses überaus haptischen Fertigungsprozesses ist ein Changement verschiedenster Blautöne, das auf der ansonsten stumpfen Tonoberfläche eine aquarellartige Tiefenwirkung hervorruft. Ähnlich der Oberfläche eines azurblauen Meerufers scheint die Keramik unter den Blaunuancen äußerlich unbewegt zu wogen. Hella Berents blau glasierte Ton-Ziegelsteine entfalten am Boden liegend oder an der Wand hängend gerade nicht den Eindruck von massiver Bausubstanz, sondern muten an wie geschmeidige, durchlässige Wasseroberflächen oder erscheinen als Ausblick in das nichtgreifbare Blau des Himmels. Die Künstlerin, die am ekwc. im niederländischen ’s-Hertogenbosch die Techniken der Blauglasur im Rahmen eines Studienaufenthaltes eingehend erproben konnte, hat in den letzten Jahren einen ganzen Kanon an Blautönen und Oberflächentexturen ausgebildet, so daß sie die verschiedenen Nuancen prononciert zum Einsatz bringt. Der glasierte Ton erscheint hier weniger als materielles, raumgreifendes Ding denn als farbiges Raumvolumen, das selbst Räume zu öffnen scheint. Sogar eine ganze Wand aus blau glasierten Steinen vermag Assoziationen von Begrenzung oder Versperrung ins Gegenteil zu verkehren, wenn die Installation (vgl. Blaue Mauer I, Kairo 2001) eher wie ein Durchgang in unendliche Welten anmutet. In dieser Wirkung ist der blau glasierte Tonziegel dem polierten Granitstein aus früheren Installationen nicht unähnlich.

Neben den Ziegelsteinformen hat Hella Berent auch runde Mauerscheiben und Hohlformen mit blauen Glasuren versehen. Die gefäßartigen Keramikskulpturen thematisieren den Raumbegriff sowohl an der blau glasierten Oberfläche wie durch ihr eigenes Volumen. Die Objekte formen Raum: sie geben Raum einen Ort. Die stehenden oder liegenden Skulpturen bilden dabei mehr oder wenig stark in den Raum geöffnete Hohlräume, die ein Innen und ein Außen bezeichnen, ohne jedoch etwas Bestimmtes zu definieren. Die plastischen Gebilde sind leer und doch scheinen sie etwas Kostbares zu versammeln und zu verwahren. Die skulpturalen Körper bringen einen Ort hervor, der Verweilen gewährt. Einfaltungen, Windungen und Zwischenräume, die sich ein- und umstülpen und die aufgrund ihrer Glasuroberfläche über ihr körperliches Raumvolumen hinaus eine weitere Tiefenwirkung entfalten. Sofern der Gedanke eines kosmischen gekrümmten Raum-Zeit-Kontinuums vorstellbar ist, wäre er dergestalt imaginierbar: als ein dynamisches Raumgefüge, das sich an der einen Stelle ausdehnt, sich an anderer zusammenzieht und über diese Pulsationen Ausbuchtungen bildet. Ein tönerner Hohlkörper erscheint auf diese Weise als unendlich expandierendes Weltall, das an jeder Stelle des Endlichen sein Zentrum findet.

Blau als Blick in die Weite, als Farbe des Ewigen, des Lebens und des Göttlichen, die in vielen Religionen und Kulturen auch als Symbol für Himmel und Wasser Verehrung erfährt. Immer bildet es eine Verbindung zwischen dem Flüchtigen und dem Festen. Als ‚gebranntes Blau’ wird es in den Keramikobjekten von Hella Berent zu einer ‚zärtlichen Materie’ und in seinen Tiefendimensionen sinnlich erfahrbar. Blau nicht als farbliche Eigenschaft, sondern als Haltung des Wissenden und Zustand des Unendlichen.

Kopf    
Die Wölbung des Schädels schützt das empfindliche Innere und grenzt es gegen das Außen ab. Und doch ist gerade der Kopf dasjenige Körperteil, das mit seinen sieben Öffnungen am meisten dem Äußeren verbunden ist. Die Sinnesorgane ermöglichen einen steten Austauschprozeß zwischen Innen und Außen, der sich im Denken, Fühlen und Wollen niederschlägt. Die sinnliche Wahrnehmung bildet die Brücke zwischen den Sphären und macht den Kopf zur Schnittstelle zwischen Innen und Außen, Oben und Unten, Intellekt und Gefühl. Diffusionsprozesse, die den Flug der Gedanken ins Unendliche ermöglichen.

Das Motiv des Kopfes ist in der Arbeit von Hella Berent seit den 1970er Jahren anzutreffen. Ganze Kopfbücher entstehen, die seitenweise und immer neu um Form und Gestalt des Kopfes kreisen. Von der figürlichen Zeichnung, in der der Kopf als Leitmotiv erkennbar wird, gelangt sie zur Abstraktion im Schwarz und zur Ungegenständlichkeit des Blaus. Das Faszinosum ‚Kopf’ hat dabei nichts an Aktualität eingebüßt: die Künstlerin nimmt ihn vielmehr buchstäblich in die Hand, wenn sie plastische Köpfe aus Ton formt und knetet. Mit blauer Glasur überzogen haftet diesen ein vergeistigt-ätherischer Ausdruck an, der sie auch in ihrer sinnlichen Erscheinungsweise in die Nähe des Himmels rückt. Für die Ausstellung in Oldenburg hat Hella Berent erstmals großformatige Köpfe aus Keramik geschaffen, die in einer stummen Zwiesprache untereinander stehen. Einen Vorläufer finden die blauen Köpfe in der Installation Greek Field, die die Künstlerin 1999 im italienischen Cuma zeigt. Die schneeweißen Köpfe, die alle den identischen Marmorkopf eines griechischen Jünglings nachbilden, scheinen hier aus dem Boden zu wachsen und verbinden die Erde mit dem Himmel. Die klassischen, fein modellierten Gesichtszüge des jungen Mannes stehen dabei in starkem Kontrast zum dunklen, groben Erdreich, auf dem sie stehen. Denken und Wahrnehmen scheinen mit dem Boden der Wirklichkeit zu opponieren und sind doch fest mit diesem verwurzelt.

Der Fluß der Gedanken als Bewegung im Raum – die Haar-Photographien nehmen das Motiv des Kopfes durch die langen schwarzen Haare einer Frauenfigur in Rückenansicht auf. Es ist die Künstlerin selber, die sich quasi vom Betrachter weg- und in die Bildtiefe hineinbewegt. Die aufrechte Gestalt und ihre langen Haare bilden dabei eine Vertikale, die in der Symmetrie des Bildes von der horizontalen Vorwärtsbewegung der Dargestellten gekreuzt wird. Mit der körperlichen Bewegung im Raum entsteht ein Spannungsverhältnis zur Bewegung des Denkens, das durch die langen Haare als Verlängerung des Kopfes visualisiert wird. Das Fließen der Gedanken und Lauf der Dinge münden in ein imaginäres Koordinatensystem, das aus einem Geflecht von Beziehungen und Relationen besteht.

In vielen Zeichnungen hat Hella Berent den Strom der Bewegungen zu Papier gebracht: Verdickungen und Verknüpfungen, unterbrochene Strichlinien und Schnittstellen erscheinen wie Flußläufe, Gedankenströme, Haarsträhnen oder Blutbahnen. Die Zeichnungen, die vom Unterbewußtsein unmittelbar und ungefiltert auf das Blatt gebracht zu sein scheinen, muten an wie Landkarten geologischer Gegebenheiten, wie Seismogramme des Intellekts oder der Emotion – Energiefelder von Bewegung, die mit einer einzigen Linie Räume generieren.

Einen objektiven Raum gibt es nicht. Raum ist eine subjektive Anschauungsform, die außerhalb der Wahrnehmung keine äußere Wirklichkeit hat. Der Ort des Raumes ist damit der Kopf, seine Oberfläche ist Spiegelung und Reflexion. Diese Oberflächen sind Zauberformeln, die nichts sagen und doch alles im Blick haben: Oberflächen, die nicht an der Oberfläche bleiben, sondern die tiefer in die Sache hineinführen. Der Inhalt von Tiefe ist so verstanden nichts anderes als das Bewußtsein. Somit bleiben das Denken und die Wahrnehmung nie folgenlos: sie sind die Vitalkräfte des Bewußtseins. Es vermag einen unendlichen Raum zu produzieren, ein Universum, in dem sich Schwarz und Blau gegenseitig durchdringen. Hella Berent hat die sinnlich wahrnehmbaren Oberflächen dieser Raumerfahrung bereitgestellt.

 

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2005 HELLA BERENT BLAU DIE ZÄRTLICHKEIT EINER MATERIE OLDENBURG
s.11-14
Isensee Verlag
Neue Reihe zur aktuellen Kunst Band 35