Running Liquid – Gedanken über die Linie

Zu den Zeichnungen von Hella Berent

Ein Gespräch

Hella Berent und Ulrike Jagla-Blankenburg

 

UJB:    Liebe Hella, ist das Zeichnen eine manische Veranlagung?

HB:     Ein Spieltrieb! Ich bin ein Spiel-Kalb und pure Neugierde treibt mich dabei an.

UJB:    Wir wollen über deine neueren Arbeiten heute sprechen. Wenn man sich hier in deinem Atelier umschaut, gibt es ausschließlich Zeichnungen, Skulpturen und natürlich deine Bücher zu sehen.

HB:     Ja, auf Leinwand arbeite ich selten. Das liegt wohl an meiner Liebe zum Papier. Ich habe früher auch eine zeitlang mit Papier auf Leinwand gearbeitet, so, wie ich aber auch großräumige Installationen nur mit Zeichnungen aufgebaut habe 1. Alles geht bei mir von der Zeichnung aus. Sie ist von je her mein Zentrum, oder sagen wir besser mein Anfang und mein Resultat – und dabei geschieht eben alles über die Linie. Eine Linie zu ziehen, das ist ja ein existentieller Akt und für mich bedeutet es auch, sich manövrierfähig zu machen. Ich meine, eine Grenze zu markieren und sie damit gleichzeitig schon überschritten zu haben. Running Liquid ist eine Grenze der natürlichen Bewegung, welche die Linie beherrscht.

UJB:    Du sagst markieren und überschreiten – wann ist für dich eine Zeichnung präzise oder fertig gestellt?

HB:     Das Wort präzise benutze ich selten. In der Kunst empfinde ich es eher als abwertend. Im Zustand des Sehens zeichne ich Linien, die sich bei mir nicht mehr vom Denken oder vom erkennenden Sehen her ableiten. Anschließend stellt sich dann eine Mischung aus Selbstbewusstheit und Wahrnehmungspräzision beim Anschauen der Linien ein, wo sich im besten Falle ein Gefüge des Nicht – Wiedererkennens eröffnet. Darin liegt vielleicht so etwas wie die Idee eines Ergebnisses, um auf deine Frage zu antworten. Ich schaue die gezogenen Linien immer wieder an, und wenn sie neu sind, wenn ich Elemente entdecke, die ich noch nicht kenne, die mir unbekannt erscheinen, wenn also diese Qualität vorliegt, dann bin ich einen Schritt weiter gekommen. Es ist das mir Unbekannte als Ergebnis in einer Arbeit, woran ich im nächsten Blatt anschließen kann. Diese Wahrnehmungsebene, die ich immer wieder versuche anzustreben, steht für Freisetzung – Freisetzung zu etwas Neuem. Wenn also schon Präzision, dann im Sinne dieser frei gesetzten Offenheit, die mir die Freiheit garantiert, oder besser eröffnet, weiter zu arbeiten.

UJB:    Warum lachst du jetzt?

HB:     Ja, weil es für mich so ist, wie ich es gerade beschrieben habe – neues Blatt, neues Glück.

UJB: Aber man hat diesen unleugbaren Hinterkopf, auch beim Zeichnen, beziehungsweise beim Be – Zeichnen der eigenen Anschauung.

HB:     Ich denke, man muss auf jeden Fall sich selbst gegenüber ehrlich sein, denn jeder Strich stellt Wahrheit her. Für mich bedeutet es, dass die Linie sich nicht direkt an Vorhandenes, beziehungsweise Gegenständliches anbinden sollte. Anders gesagt: nicht Wissen, sondern Wahrheit spüren.

UJB:    Die Entstehung einer Linie als absichtslose Idee?

HB:     Ja, absolut.

UJB:    Das heißt, die Linie in der Zeichnung entkernt nach deinem Verständnis die angebundene Kontur und schafft neue, eigene Verhältnisse?

HB:     Ja, es geht um Schauen und Anschauung als ein sich ständig neu entwickelnder Fluss von Ursache und Wirkung, was einen steten Wandel und eine Ungebundenheit in sich birgt. Doch man gewinnt ja Freiheit nicht einfach so, für mich ist sie täglich neu zu definieren, täglich neu zu finden.

UJB:    Du sprichst von Wahrheit. Bereits seit Dürers Naturstudien wird die Linie in Bezug auf Wahrhaftigkeit beachtet – und bis heute bedeutet sie jedem Künstler dann doch noch einmal etwas Spezielleres, etwas, das bis dahin vielleicht noch unausgesprochen blieb. Entspricht die gezogene Linie nicht auch der eigenen Spannung, im Sinne eines subjektiven und intimen Raum – Zeit – Gefüges ?

HB:     Linie und Raum stehen wohl immer in gegenseitiger Abhängigkeit zueinander. Der Raum wird durch die Linie geschaffen – aber die Linie steht natürlich auch für sich allein. Nach meinem Verständnis sehe ich sie vor allem in ihrer Bedeutung der Fülle, und ich meine hiermit die Fülle der Leere – dann haftet nichts mehr an, wie zum Beispiel geparkte Vorstellungen des Gehirns, alles ist erloschen, dann kann Fülle unzerstreut, gesammelt, stabilisiert, wie eine geistige Energie, da sein. Es geht mir um das gegensätzliche Prinzip von Dichte und Transparenz. Wenn sanfte Leichtigkeit und Dichte in einer Arbeit zusammen kommen, mag ich das sehr gern – wenn es dann aber im Prozess des Entstehens zu hermetisch wird, werfe ich es sofort weg. Weiterhin betrachte ich die Linie als Zeit fassend  in abstrakter Ausdehnung. Und vor allem soll sie auch Atem sein – das ist mir wichtig. Das klingt seltsam, spricht aber nur das Unaussprechliche an.

 UJB:    Wir sprechen hier also schon über die Abstraktion in der Zeichnung?

HB:     Es sind keine abstrakten Zeichnungen – meine Arbeiten sind zwar in ihrer Darstellung gegenstandslos, aber zugleich ist in ihnen Raum existent. Ich lasse das Perspektivische ganz fallen, obwohl man Perspektive dabei sehr wohl assoziieren kann – man kommt gar nicht umhin. In diesem oben schon angesprochenen Verhältnis von Dichte und Leere lagern sich unweigerlich Raumfolien ein, die ich selber auch erst später wahrnehme, und in dieser Räumlichkeit ertastet sozusagen die eigene räumliche Erinnerung dann eine wie auch immer geartete Perspektive. Das sind sicherlich Übertragungen von Erfahrungen.

UJB: Meinst du damit Raum – Erfahrungen?

HB: Ja, damit meine ich aber auch eine Wahrnehmung von Raum, die nicht im euklidischen Sinne steht. Gemeint ist nämlich ein Raum, der sich von den Wahrnehmungen der Sinne her visuell ableitet, aufbaut, auch vom eigenen Körper – ein Empfindungsraum, der immer wieder zu mir selbst führen kann. Ich denke, jeder erfährt von Zeit zu Zeit und vielleicht auch in überraschenden Momenten existentieller Raum – Empfindungen. Bei mir geschah das zum Beispiel früher einmal in Indien sehr intensiv oder auch noch vor wenigen Jahren, 2009 in Isfahan im Iran, eben wenn ich in der Fremde bin. Ich stehe zum Beispiel in einer sandigen Straße, in unmittelbarer Nähe zum Meer, vor einer Mauer, und über die Höhe dieser Mauer ragen die Zweige eines Baumes von der anderen Seite zu mir herüber, ich meine zu mir, als die, die sich in dem Moment als draußen stehend betrachtet und empfindet – eine eindeutige Wahrnehmung. Ich gehe sodann in den Garten, werde eingeladen herein zu kommen, und nehme dort innen dieselbe Mauer als Wand, als Abgrenzung des Inneren wahr. Die Wechselwirkung der Wahrnehmung von Innen und Außen fasziniert mich. Das, was außen ist, ist als Außen innen. Dazu habe ich in meinen Aufzeichnungen, die ich vor vielen Jahren in Indien abgefasst habe folgendes beschrieben:

es ist das ewige Außen das innen ist
der Innenraum ohne Dach
es sind nicht nur die Bäume
es ist der Himmel und die Zeit als wechselndes Licht
jede Stimmung sammelt sich in ihnen
und sie geben Auskunft über das was ist
sie sind das Gedächtnis des Platzes
sie wandeln sich nicht und doch ist alles was war in ihnen

Wenn ich das heute lese, berührt es mich noch immer, denn ebenso  verhält es sich  mit der Linie in meinen Zeichnungen. Zuvor führte ich eben genau das an, nur mit anderen Worten. Auf dem lebendigen Boden der Relativität die Bedeutungen verändert sehen zu können – wenn dieser Sprung in der Linie sich mitteilt, dann ist Pause angesagt.

UJB:    In diesem Sinne bedanke ich mich jetzt sehr für das Gespräch.

HB:     Ja, gerne.

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März 2013, erschienen im Katalog Hella Berent Zeichnungen 2010 – 2013
(Mit einem Text von Jean-Luc Nancy sowie einem Dialog zwischen Hella Berent und Ulrike Jagla-Blankenburg), Verlag Dietmar Fölbach, Koblenz
(1) zum Beispiel: Rauminstallation „upside down – Gefühlsstürze oder die Grube des Wunderbaren“ 1983, Kunstforum Maximilianstrasse, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München;
siehe Katalog: Hella Berent upside down – Gefühlsstürze, New York City 22.11.1981 bis 28.11.1982